Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf sieht weder die völlige Bedeutungslosigkeit der Kirche in wenigen Jahren noch die Kirche am „toten Punkt“, wie es Kardinal Marx in seinem Brief an Papst Franziskus schrieb. Er selbst sieht eher, dass eine bestimmte Gestalt von Kirche sterbe. Und er sieht dabei als seine Aufgabe, zu ermutigen. Er glaubt, dass sich die Gestalt der Kirche massiv verändert. Wohin sie sich äußerlich hierzulande entwickelt, kann aber noch niemand sagen.
Dabei richtet sich sein Blick auf den Propheten Jeremia. Ein erschütterndes Leben in einer bewegten Zeit. Er empfindet seine Berufung als Zumutung, die Menschen wollen seine Botschaft nicht hören. Sie laufen weg, Gott jedoch bleibt treu. Bis heute leben wir aus dieser Treue Gottes. Auch in einer Zeit wie heute ist es kein „Opium“, an diese Liebe und Treue Gottes zu den Menschen und zu seiner schwachen Kirche zu glauben. Dieses Pendel zwischen Glauben, Unglauben, Suchen, Ringen, Stärke und Schwäche durchzieht die ganze Geschichte des Volkes Gottes, auch nach Christus.
Glauben wir noch an Gottes Gegenwart in der Kirche und in der Geschichte? Setzen wir den Tod der Kirche nicht vorschnell mit dem gleich, wie wir uns die Kirche vorstellen? Vielleicht hat Gott eine ganz andere Idee von der Kirche und ihrer Gestalt als wir. Zu viele verfolgen deutlich wahrnehmbar mit ihrer Kritik an der kirchlichen Gestalt ihre eigenen politischen Ziele. Der Prozess einer wirklichen Unterscheidung der Geister ist eben auch mühsam. Die Kirche war nicht immer das Reich des Lichts, die Welt nicht das Reich des Bösen. Der Blick in die Geschichte macht auch gelassen, denn der Kirche wurde immer einmal wieder der Tod vorhergesagt.
Es ist heute nicht mehr automatisch so, dass man zu einer Kirche gehört. Menschen müssen oder wollen sich heute eben entscheiden, für oder gegen die Kirche. Damit verliert die Kirche an Quantität, dies aber sieht der Bischof als eine Einladung an der Qualität zu arbeiten - der Qualität der Verkündigung, der Lehre, der Caritas, der Theologie und der Seelsorge. Der Mainzer Bischof will kein Bischof sein, um die Kirche abzuwickeln, sondern um an den lebendigen Gott zu erinnern, der auch heute in der Kirche lebt und wirkt. Und dafür müssen alle an zeitgemäßen Strukturen arbeiten. Form und Inhalt gehören zusammen.
Nachdenken über die Kirche der Zukunft - das ist eines der Lieblingsthemen von Tomáš Halík, dem katholischen Priester und Soziologie-Professor aus Tschechien. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der Frage, wie die katholische Kirche der Zukunft aussehen wird/soll. Seit der Corona-Pandemie und dem coronabedingten Rückzug ins eigene Büro hat er sich dem Thema intensiver gewidmet und hat nach eigenen Aussagen viel über Kirchen-Modelle nachgedacht: "Eines ist die Definition der Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil – Gottes Volk auf Pilgerreise durch die Geschichte. Das zweite Modell ist das von der Kirche als Schule der christlichen Weisheit. Und das dritte ist die beliebte Metapher von Papst Franziskus von der Kirche als Feldlazarett. Zuletzt hat der Papst oft von der Kirche als Ort der Begegnung und des Gesprächs gesprochen. Das finde ich heute sehr wichtig: Die Kirche als Ort, an dem Leute miteinander reden, aber auch in der Meditation zusammen schweigen können. Dieser kontemplative Zugang zum Leben ist eine Medizin. Die Zukunft wird weniger von den traditionellen Gemeinden geprägt, sondern von geistigen Zentren, in denen Übungen, Meditationskurse und so weiter stattfinden. Da kommen Leute aus verschiedenen Kirchen zusammen – die geistig Suchenden. Dieses Modell ist eine Inspiration für die Zukunft."
Gedanken über die Zukunft der Kirche macht sich auch Dr. Christian Hennecke - Leiter des Seelsorgeamtes im Bistum Hildesheim und Mitglied der Fokolar-Bewegung. „Gott schafft Neues“, so lautet eine seiner Botschaften. Im Rahmen einer Veranstaltung sagte er: „Schon sprießt Neues. Wir müssen es nur merken. Aber selbst, wenn wir es nicht merken, Gott schafft trotzdem Neues. Nicht nur an uns hängt die Erneuerung der Kirche. Gott schafft die neue Gestalt der Kirche. Wie Jesus damals, sollen wir uns auf die Situationen der Menschen einlassen, auf das, was sie bewegt. Wir sollten zueinander und zu den Menschen sagen: Lass mich dich lernen! Und das in dem Bewusstsein: Alle bekamen den Geist Gottes geschenkt. Dann werden neue und vielfältige Formen von Kirche entstehen. Die nächste Generation wird keinesfalls mehr Kirche so leben, wie wir es uns heute noch vorstellen.“
Das gelte nach seiner Ansicht für die Kirche insgesamt und für die Familien im Besonderen. Familien sollen sich in Netzwerken zusammenfinden, die existenziell prägen. „Die Kirche wird ein Netzwerk von Segensorten sein.“ Die Familien sollen eine „Mystik des Zwischen“ leben, Gott also suchen und finden im Miteinander der Menschen.
Mit einem Bild eines einsamen Eisbären auf einer immer kleiner werdenden Eisscholle erklärt er das Lebensgefühl vieler Menschen heute, wenn sie sich die gegenwärtige Situation der Kirche anschauen. Man habe zunächst das Gefühl, alles geriete aus den Fugen. Eine polarisierende Stimmung macht sich breit, nicht nur in der Kirche, durch die Pandemie angeheizt auch in der Gesellschaft. Weltuntergangsstimmung? Geht die Kirche unter?
Doch das ist nur die Sicht, wenn die Vergangenheit unser Denken beherrscht, wir uns fühlen wie ein Fisch im Aquarium – so ein anderes Bild von Hennecke. Wir tun oft noch so, etwa in der Erstkommunionvorbereitung, als bewegten wir uns in einem katholischen oder christlichen Milieu, in einem geschlossenen Raum. Doch seit Jahrzehnten ist in den Menschen das Bewusstsein gewachsen, dass sie frei wählen können, was sie glauben und wie sie ihre Glaubenspraxis gestalten wollen.
Wenn eine „neue DNA“ in die Kirche eingefügt werden soll, hilft ein Blick in die Apostelgeschichte: Die dort geschilderte Situation entspricht viel mehr der unseren. Nicht das Ende des christlichen Abendlandes ist eingeläutet, sondern eine neue Zukunft. Wie die Apostel sollen wir auf das schauen, was die Menschen mitbringen, und darin den Weg Gottes mit uns erkennen. Wir brauchen also eine gläubige Sicht, die in uns die Ängstlichkeit nimmt und das Bewusstsein stärkt, dass die innere Freiheit Veränderungen ermöglicht. Alles zusammen ergibt eine Kirche, die aussieht wie ein Mischwald: Vielfältig und doch in Einheit. Dabei können wir der Verheißung trauen: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage!“
Heute wird viel über „den langen Schatten der Klerikerkirche“ gesprochen. Dabei hat man die Vorstellung, dass in der Kirche auf der einen Seite die „Anbieter“ stehen, auf der anderen „die, die etwas kaufen“. In der Kirche der Zukunft ist klar: „Alle haben eine Berufung und ein Charisma.“ Die Aufgabe des kirchlichen Amtes ist es zu helfen, dass Vielfalt möglich ist und zugleich alle zusammengehören. In diesem Werdeprozess braucht es Menschen und Familien, die für den Glauben brennen. Manchmal sind „Sehhilfen von außen“ hilfreich. Bei Gedanken über die Zukunft muss uns allerdings klar sein, dass es „keine Erneuerung unter zehn Jahren“ gibt. Wir benötigen einen langen Atem.
Gefunden und zusammengestellt von Bruno Kulinsky