Zur Grundbildung eines Menschen gehören nicht nur die von der PISA-Studie abgefragten sprachlich-literarischen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen, sondern auch ethische, soziale und religiöse Bildung ebenso wie ästhetische, medienkritische, ökologische, geschichtliche, zukunftsfähige und lebensphasengerechte Bildung. In Deutschland fehlt diese mehrdimensionale Bildung, eine viel umfassendere Bildung, die auch Tradition, Kultur, Rituale und Religion beinhaltet.
Was muss unsere Gesellschaft neu lernen?
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen. Und was brauchen Kinder? Zuwendung, Regeln, Liebe, Unterstützung, Klärungen. Die Eltern legen vielleicht Glaubensfundamente, vermitteln Werte und eine Lebenshaltung. Das ist eine ungeheuer große Verantwortung, eine enorme Leistung und eine wunderbare Aufgabe. Aber auch die Menschen ohne Kinder oder die Älteren, die schon Kinder erzogen haben, leisten einen unschätzbaren Beitrag, wenn sie den Kindern in unserem Land etwas von der Kultur, dem Gedächtnis, der Bildung einer Gesellschaft mitgeben.
Hier ein paar Auszüge aus einem Vortrag von Margot Käßmann:
Vielleicht können wir von diesen Überlegungen her deutlich machen, was das Engagement für Kinder in unserem Land bedeutet: Ja, es geht um die biologischen Eltern, die sich für Kinder engagieren. Aber es geht auch um die Haltung einer Gesellschaft insgesamt, die ihre Zukunft auf Kinder baut. Wer nur Börsenkurse im Blick hat, kann tief fallen. Aber wer im eigenen Leben an kommende Generationen denkt, lebt wahrhaftig nachhaltig. So spielen Elternschaft und gesellschaftliches Engagement für Kinder ineinander und nicht gegeneinander. Unsere egomanische, ökonomiefixierte Gesellschaft lernt gerade ganz neu: Die Zukunft liegt im Verletzbaren, im Kind. Das ist christlich gesehen die zentrale Lektion. Selbst Gott kommt als Kind verletzbar zur Welt, so glauben Christinnen und Christen.
Alles, was wir für so entscheidend halten, auch ein enger Bildungsbegriff, hält gar nicht stand, wenn es ernst wird im Leben. Wenn wir krank werden, wenn wir sterben, dann stürzen all unsere Sicherheiten zusammen, die uns angepriesen werden. Dann brauchen wir eine Herzensbildung, Bildung für das Leben, Rituale, Geschichten, Gebet. Dann zählen Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen, sagt der Apostel Paulus. Wohlgemerkt nicht die Disziplin oder die Strenge, sondern die Liebe, die wir als Eltern einem Kind gegeben haben, sind entscheidend für seinen weiteren Lebensweg. Die Resilienzforschung zeigt, dass frühe Erfahrung von Wertschätzung Kinder widerstandsfähig macht, ihnen Kraft gibt, auch schwierige Zeiten zu meistern. Die Zuwendung, die wir als Nachbarin oder Lehrer, als Ausbilderin oder Pastor, als Erzieherin oder Pate einem Kind zukommen lassen, sie ist eine Investition in die Zukunft. Da hinterlassen wir eine Spur im Leben. Wir geben den Glauben, die Kultur, die Werte, die wir selbst ererbt haben von unseren leiblichen und geistlichen Vätern und Müttern weiter. Das ist Teil von Bildung und es ist Teil eines Eintretens gegen seelische und geistige Armut.
Kinder brauchen (biblische) Geschichten, Religion und Gebet, Rituale und Lieder, Vorbilder.
Wenn es in der Bibel heißt: „der Gott deines Vaters Isaak“, dann wussten offenbar alle, welcher Gott gemeint war. Wenn bei uns heute jemand vom „Gott deines Vaters Jürgen“ oder vom „Gott deiner Mutter Monika“ spricht, werden die Kinder ins Grübeln geraten. Sollte der ominöse Fußballgott gemeint sein? Oder vielleicht der Geiger André Rieu?
Es ist wichtig, dass Kinder und Jugendliche Zugang zu den alten biblischen Geschichten finden. Da geht es um Glauben, aber auch um Beheimatung in der eigenen Kultur. Architektur, Literatur, Kunst in Deutschland sind ohne jede Bibelkenntnis gar nicht zu verstehen. Aber wir erzählen nicht mehr. Da hat ein Kind nie etwas gehört von Josef etwa, der ein bisschen verwöhnt und hochnäsig war, der brutal verraten wurde, aber einen Weg fand im Leben, weil er sich Gott anvertraute. Wie gut aber zu wissen, dass ich durchhalten kann, dass Versöhnung möglich ist. Es ist ein Verlust an Gemeinschaft, Tradition und Kultur, dass in unserem Land der gemeinsame Erzählfaden abgerissen ist. Wir müssen Geschichten, gerade auch die biblischen Geschichten, weitererzählen.
Auch wenn in unserem Land die Säkularisierung unübersehbar ist, denke ich grundsätzlich: Kinder brauchen Religion. Wo können Kinder heute ihre existentiellen Fragen stellen? Kinder und Jugendliche haben tiefe und religiöse Fragen. Ich finde, es ist ein Armutszeugnis, wenn sie abgebügelt werden mit einem lapidaren „Weiß nicht!“. Viele Eltern meinen offenbar, sie selbst hätten zu wenig Antworten, seien nicht kenntnisreich genug in Sachen Glauben. Und deshalb delegieren sie die religiöse Erziehung an die Kindertagesstätte oder die Schule oder sagen schlicht: „Mein Kind soll selbst mal entscheiden, welche Religion es haben will, ich habe damit nichts zu tun.“ Aber ein Kind muss doch erst eine Religion kennen lernen, um sich dann eines Tages dafür oder dagegen entscheiden zu können.
Die Fragen der Kinder und Jugendlichen sind immer auch Fragen an uns selbst: Was glauben wir? Wo stehen wir? Sie sind eine Chance, die existentiellen Fragen nicht auszublenden, sondern offen anzunehmen, nicht vor ihnen wegzulaufen, sondern sich Zeit dafür zu nehmen. Dabei möchte ich Eltern und allen anderen, die erziehen, Mut machen zur Antwort.
Dazu gehört für mich auch das Beten. Wie wichtig ist es, in Angst und schweren Zeiten ein Gebet zu kennen. Das habe ich in der Seelsorge immer wieder erlebt. Es ist auch Armut, nicht beten zu können. In dem alten Schwarz-Weiß-Film „Das doppelte Lottchen“ stehen die beiden Mädchen vor der verschlossenen Tür, hinter der die Eltern beraten. Die eine sagt: „Jetzt müssten wir beten“. Die andere sagt: „Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ Unpassend, ja. Aber immerhin, sie kannte noch ein Gebet, das ihrer Angst Worte und Form geben konnte. Ich denke, Beten lehren, eröffnet neue Horizonte.
Neben den Geschichten des Glaubens und dem Beten sind es für mich die Rituale, in die Kinder hineinwachsen sollten. Für Kinder haben Rituale eine große Bedeutung, ja sie lieben Rituale und Rituale prägen sie und ihre Erinnerung an die Kindheit und auch als Jugendliche. Da können Eltern so viel gestalten! Bei meinen eigenen vier Kindern habe ich erlebt, wie wichtig die zuverlässige Wiederholung des Erlebten, das konsequente Aufgreifen des Rituals für sie war.
Rituale helfen uns, der Trauer Formen zu geben, sie zu bewältigen. Das habe ich auch erlebt, wo Kinder gestorben sind und den Freundinnen und Freunden, den Mitschülern die Möglichkeit gegeben wurde, den Abschied mitzugestalten. Kerzen anzünden, Gebete sprechen, Briefe der Erinnerung schreiben oder Blumen ins oder auf das Grab legen: Das sind einige der Formen, die auch Kindern helfen, Abschied zu nehmen. Und manche erfinden sie vielleicht auch ganz neu für sich selbst. Es ist auch eine Form von Armut, keine Rituale zu kennen, die uns helfen, das Leben zu bewältigen.
Neben Geschichten, dem Beten und Ritualen gehört sicher das Singen zur christlichen Erziehung. Mit einem Lied jubeln oder in Verzagtheit singen „Wer nur den lieben Gott lässt walten...“, das tut der Seele gut. Lieder können in uns klingen, wenn wir nicht mehr sprechen können. Vor einiger Zeit titelte der Spiegel „Das Jaulen der Trauerklöße. Die Deutschen verlernen das Singen.“ Wie wahr, können wir in diesen Lamentogesang nur einstimmen. Ich erinnere mich gut, dass meine jüngste Tochter mich beim Abiturgottesdienst ihrer Schwestern vor Jahren anraunzte: „Sing doch nicht so laut, das ist ja peinlich.“ Dann wurde klar: Ich war fast die Einzige, die sang, außer dem Pastor… . Singen aber ist Teil von Bildung! Das Singen neu lernen sollte ein Anliegen sein, weil, wie der Musikwissenschaftler und Gesangspädagoge Karl Adamek das formuliert hat, „die Seelen verstummen“, wenn das Singen bedroht ist. Menschen, die singen, sind nachgewiesenermaßen psychisch und physisch gesünder.
Schließlich die Vorbilder. Kinder und Jugendliche suchen Orientierung an Erwachsenen. Sie wollen wissen, was Erwachsene glauben, wo sie Halt finden, um für sich selbst einen Weg zu finden in Identifikation oder auch Abgrenzung. Dabei müssen die Vorbilder nicht ohne Risse sein! Meine Großmutter etwa hatte für jede Lebenslage einen Bibelvers parat. Wenn es Ärger und Auseinandersetzungen gab, hieß es: „Lass die Sonne nicht über deinem Zorn untergehen – schrieb schon der Apostel Paulus an die Epheser!“ Ach, was konnten wir dagegen schon sagen? Gab es Streit mit den Eltern, wurde das Vierte Gebot herbeigeholt. Ich erinnere mich, dass ich mit meiner Cousine einmal am Karfreitag ins Kino gehen wolle. Nichts da: „Du sollst den Feiertag heiligen!“ Eben dieses Gebot konnte sie auch zitieren, wenn es an ihrem Geburtstag Windbeutel mit Sahne gab. Nervend fanden wir das manchmal. Aber sie war offen für Gespräche über Gott und die Welt, und sie hatte einen Standpunkt, der ihr offensichtlich geholfen hat, zwei Weltkriege durchzustehen, die Verschleppung des Ehemannes, die Flucht aus Hinterpommern, den Neuanfang mit Kindern und Enkeln in Hessen. Das hat mir imponiert. Sie hatte im christlichen Glauben Halt gefunden, warum sollte das nicht auch Halt für uns bieten?
Auch heute suchen Kinder und Jugendliche erwachsene Menschen, an denen sie sich orientieren können durch Identifikation oder Abgrenzung. Es ist wichtig, dass wir mit Kindern ins Gespräch kommen, sie ernst nehmen als Individuum, als Subjekt und nicht nur als Objekt unserer Erziehung.
Was Jesus als das höchste Gebot überlieferte: „Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst“, sollte als Lebenshaltung eingeübt werden. Rechenschaft für mein Tun, Selbstvergewisserung und Sorge für andere kommen zusammen. Da der oder die andere, ebenso wie ich selbst, als Gottes Ebenbild angesehen werden, steht seine oder ihre Würde nicht in Frage. Ja, da mag es Streit und Auseinandersetzung geben, das ist normal.
Mehr als jede Generation zuvor wird die jetzt heranwachsende vor enorme ethische Entscheidungen gestellt sein. Das Individuum muss Stellung beziehen, wo alte Wertvorstellungen ihre Selbstverständlichkeit verloren haben. Ich denke an Fragen der Gentechnologie, der Fortpflanzungsmedizin, der Sterbehilfe, der Energiegewinnung. Deshalb brauchen Kinder klare eigene Wertvorstellungen, die ihnen helfen, eine klare Grundhaltung zu finden, nicht auf sich selbst fixiert zu bleiben, sondern standhaft Position zu beziehen. Wie sang Bettina Wegner: „Menschen ohne Rückgrat haben wir schon genug…“.
Ja, das brauchen Kinder: Eine geborgene Umgebung, Lust an Bildung, Hoffnung auf Zukunft und Wegweisung in dieses Leben hinein durch Rituale und Gebete, durch Bildung und Lieder, durch die Freiheit zu werden, was sie sind: „Ein köstlicher Schatz Gottes“.
Gefunden und zusammengefasst von Bruno Kulinsky