Im Bildungsplan unserer modernen Gesellschaft, die sich selbst gerne auch als fortschrittlich bezeichnet, gehört Religion schon lange nicht mehr zu den sogenannten Kernkompetenzen, wie Lesen, Schreiben und Rechnen.
Religion sei nicht so wichtig. Und so befindet sich schon seit geraumer Zeit das Fach Religion in einem Rechtfertigungszwang und wird bei Neustrukturierungen der Unterrichtsfächer immer mehr an den Rand abgedrängt. Dieser Konflikt wird sich vermutlich in Zukunft noch weiter verschärfen, wenn mit zunehmender Eigenständigkeit der Schulen bei fortbestehenden Engpässen in der Unterrichtsversorgung die Entscheidungskompetenzen auf die Schulleitungen und lokalen Aufsichtsorgane verlagert werden. Es wird denjenigen, die die Glaubensinhalte reflektiert vermitteln wollen, dem zunehmenden Hinterfragen hinsichtlich der Relevanz religiöser Praxis und Einsichten, nicht immer ganz leicht argumentativ standzuhalten.
„Braucht der Mensch Religion?“ - diese Frage stellte die Zeitung „taz“ Prominenten anlässlich des Ökumenischen Kirchentags in Berlin in 2003. Stellvertretend für die Bandbreite der Antworten hier zwei Zitate aus der taz:
Desiree Nick, Schauspielerin und katholische Religionslehrerin: „Die religiöse Bildung ist verkrüppelt. Dabei ist eine religiöse Erziehung vorzuenthalten so, als würde man einem Kind nicht Rechnen und Schreiben beibringen - und dann mit 12 sagen: Entscheide du: Möchtest du Rechnen und Schreiben lernen? Ich selbst glaube an Gott und bete. Mit der Institution Kirche komme ich nicht klar.“
Petra Pau, PDS-Bundestagsabgeordnete: „Ob der Mensch Religion braucht, ist eine individuelle Frage. Jede und jeder muss sie für sich beantworten, übrigens auch welche. Ich glaube: Wichtiger ist, dass Werte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mehr beseelen als Egoismus, Macht und Gier. Religion kann dabei Quelle und Stütze sein, aber nicht nur sie. Ich bin als Kind religiös unterrichtet worden, in der DDR. Und es gibt Situationen, da fühle ich mich zum Glauben gezogen. Aber ich bin nicht religiös.“
„Braucht der Mensch Religion?“ – Unter diesem Titel ist Hans Joas, Professor für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, in einem Hauptvortrag auf dem Ökumenischen Kirchentag 2003 in Berlin dieser Frage ausführlich nachgegangen. Grundsätzlich erteilte er Nützlichkeitsargumenten eine Abfuhr. Sie instrumentalisierten den Glauben, könnten aber keinen Glauben hervorrufen. Stattdessen knüpfte er an Erfahrungen der Selbsttranszendenz an, die allen Menschen aus alltäglichen Zusammenhängen greifbar seien.
Diese Erfahrungen des „Hinausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst“ umfassen nach Joas eine große Bandbreite, beglückende ebenso wie bedrohliche, ängstigende Erfahrungen, ekstatische als auch einfache Formen des Mitgefühls, der Betroffenheit, aber auch Selbstlosigkeit und Selbstüberwindung. Diese Erfahrungen könnte nach Joas als psychologische Phänomene betrachtet werden. Zugleich begegnet in ihnen aber eine Kraft, deren Herkunft erklärt und deren Wirkmächtigkeit gedeutet sein will. „Gläubige deuten diese Erfahrungen ... im Lichte ihres Glaubens“ - betont Joas und fügt bezugnehmend auf William James, eines US-amerikanischen Psychologen und Philosophen, hinzu, dass bestimmte Deutungen Raum schaffen, um bestimmte Erfahrungen zu machen. Erst die bestimmte Interpretation von etwas als etwas, z.B. die einer Genesung als einer göttlichen Heilstat, macht es möglich, auch künftige gute Erfahrungen, als von Gott bewirkt, zu deuten und insgesamt mit einem guten Ausgang des Lebens zu rechnen. Deutungen der Wirklichkeit haben dann nicht in erster Linie eine nach rückwärts gewandte feststellende Funktion, in der die Wirklichkeit durch ein ihr entsprechendes Bewusstsein verdoppelt wird. Vielmehr eröffnen Deutungen die nach vorne gerichtete Möglichkeit, die Wirklichkeit vor einem bestimmten Sinnhorizont zu verstehen und das individuelle und soziale Leben gemäß dieser Deutung zu gestalten. Materialistische Deutungen der Welt führen nach James notwendigerweise zu Hoffnungslosigkeit und Resignation, weil der Tod der Materie schon immer innewohnt. Religiöse Deutungen dagegen tragen die Verheißung eines guten Weltausgangs in sich, und leiten den Menschen zu einem guten Handeln an.
Joas: „Wenn unsere Einstellung zur Welt den Ausdruck der Welt verändert, dann gibt es keinen zwingenden Grund, der Welt ohne Vertrauen entgegenzutreten. Eine Bereitschaft zu glauben ermöglicht dann überhaupt erst bestimmte Erfahrungen.“
Für den Dialog über die Frage der Relevanz eines Religionsunterrichts, in dem nicht nur Wissen über Religion und nicht nur Ethik vermittelt wird, heißt dies: Religiöse Traditionen und Institutionen bieten nicht nur Muster zur Deutung von Erfahrungen der Selbsttranszendenz, sondern „sie machen solche Erfahrungen auch erst möglich.“ Die Frage ist also, ob wir anderen Menschen Deutungsmuster von und Zugänge zu religiösen Erfahrungen eröffnen wollen, oder ob dieser Raum menschlicher Erfahrungen, solch heilsames Orientierungswissen künftigen Generationen vorenthalten werden soll.
Auszüge aus einer ARPM-Hefteinleitung von Heiko Lamprecht, Amt für Religionspädagogik und Medienarbeit der ev.-Luth. Kirche in Braunschweig