Die moderne Welt mit ihrem „Höher – Schneller – Besser“ und dem Bedürfnis, ja nichts zu versäumen, kurbelt das Lebenstempo unablässig an und macht uns zu gehetzten, ruhelosen Menschen. Permanente Anforderungen, Komplexität des Lebens und digitales Kommunizieren führen mancherorts zu Überlastung und einem tiefen Wunsch nach Ruhe und Erholung. Das Wort Geborgenheit steht für einen Ort, wo wir ohne Leistungs- und Rechtfertigungsdruck einmal so sein können, wie wir sind, und für Augenblicke, in denen die täglichen „Leistungsantreiber“ schweigen. Gerade in der modernen Risiko- und Konfliktgesellschaft mit ihren ständig neuen Unsicherheiten steigt der Wunsch nach Beheimatung, Angenommensein und Sicherheit. Manche suchen die Geborgenheit im überschaubaren Kreis der Familie, von Freunden und Vereinen (Small is beautiful) oder erwarten diese – das weisen Studien nach – von religiösen Gruppen, die mit ihren Riten, Symbolen, sozialen Netzen und sinnstiftender Weltanschauung ganzheitlichen Halt vermitteln.
Der Mensch hat ein lebensnotwendiges Bedürfnis nach Geborgenheit, Zugehörigkeit und Halt. Grundgelegt wird dieses Lebensgefühl bereits nach der Zeugung des Menschen im Mutterleib. Das heranwachsende Baby ist im warmen Fruchtwasser im Mutterleib geborgen, wird getragen und fraglos genährt. Wie uns Leibtherapeuten und Neurologen klarmachen, wird dadurch das sogenannte Urvertrauen durch die basale körperbezogene Erfahrung des Getragen- und Versorgt-Seins grundgelegt und entsteht nicht – wie das oft in religionspädagogischen Abhandlungen zu lesen ist – erst nach der Geburt mit der sozialen Zuwendung durch die wichtigsten Bezugspersonen. Freilich wird diese durch soziale Zuwendung, durch Körperkontakt und -wärme, Streicheln, Liebkosen, Tragen und Wiegen usw. verstärkt. Darin liegt das Fundament für eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung des Menschen und die Bildung eines widerstandsfähigen Immunsystems. Das Kind erlebt im positiven Grundgefühl, dass die Welt grundsätzlich ein sicherer Ort ist, dass man in Not Schutz und Hilfe erhält und Menschen ihm wohlgesonnen sind. Der Theologe Christoph Theobald bezeichnet dieses grundlegende Gefühl treffend als „Lebensglauben“, der jedem religiös-konfessionellen Bekenntnis vorausliegt. Ohne dieses gewachsene Urvertrauen in das Leben kann kein Mensch leben.
Nun steht aber dem Bedürfnis basaler Geborgenheit ein anderes diametral gegenüber. Wie so oft entwickelt sich das menschliche Leben zwischen zwei Polen, die beide zur vollen Entfaltung des
Menschen notwendig sind. Es war vor allem die Bindungstheorie (Bowlby und Ainsworth), die diese spannungsgeladene und wechselseitige Dynamik der Entwicklung des Kindes beschrieben hat: Das
Geborgenheitsbedürfnis steht nämlich im Wechselspiel mit der Entdeckungsfreude und Neugier des Kleinkindes. Das Kleinkind will nicht immer nur im Schoß der Mutter sitzen. Sobald das Kind krabbeln
und vor allem laufen kann und sich von der Mutter entfernt, um die Welt zu entdecken, wird es dies umso leichter tun (können), wenn es darum weiß, dass die Mutter in der Nähe ist und für Schutz
und Sicherheit sorgen wird. Die Mutter ist wie ein sicherer Hafen, zu dem das Kind jederzeit zurückkehren kann. Es wird sich umso mehr in die Welt hinauswagen, sie entdecken und erforschen, je
klarer es zuvor eine sichere Bindungserfahrung machen konnte. Das Grundgefühl der Geborgenheit und das emotionale Band zur verlässlichen Bezugsperson sind geradezu die Voraussetzungen dafür, sich
in die Welt wagen zu können. Damit das Kind diesem Impuls zur Weltentdeckung nachgeben kann, braucht es zweierlei: Die tatsächliche Erfahrung eines sicheren personalen Ortes und die bis zum Ende
des ersten Lebensjahres entwickelte Fähigkeit, ein inneres Bild dieser verlässlichen Person über eine räumliche Distanz hinweg stabil halten zu können (Fachjargon: inner working model). Das ist jene Lebensphase, in der das Autonomiestreben des Kleinkindes deutlich einsetzt und gleichsam die Zündung für das
eigene Bewusstsein und den eigenen Weg ansetzt. Solche Schritte der Individuation – in welchen Varianten auch immer – bleiben ein Leben lang ein Wagnis. Hier sind dann die Eltern in ganz anderer
Weise gefragt: Waren sie zuerst mitverantwortlich für die Herausbildung eines stabilen emotionalen Grundgefühls der Geborgenheit, so sollen sie nun ihr Kind in seinem Entdeckungsdrang
unterstützen und zugleich Sicherheit vermitteln.
Ein Leben lang wird diese Sehnsucht nach Geborgenheit – und nach Individuation – in uns lebendig bleiben. Gerade angesichts von
Überforderung erwacht der regressive Wunsch nach einem Eintauchen in die primäre Geborgenheit des ungeborenen Kindes im Mutterleib wieder, der Wunsch nach Ruhe und Zufriedenheit jenseits von
Konflikt und Anstrengung. Allein dieses Zurück in Wärme, Dunkelheit und Geborgenheit ist verwehrt – wie die Rückkehr ins Paradies. Und auch der Rückzug in die kleine, heile Welt, also der Rückzug
in eine wohlige Gruppe, die gleichsam als „sozialer Uterus“ fungiert, klappt auch nicht mehr reibungsfrei.
Stellen Pfarrgemeinden und christliche Weltanschauungen einen solchen Hort der Zuflucht, oder gar ein Sammelbecken für Ängstliche und Lebensflüchtige dar?
Auch Jesus zog sich immer wieder zurück, um die Nähe und Geborgenheit Gottes, seines Vaters zu erfahren und um neue Kraft für
seine Sendung zu schöpfen: auf einen Berg, in die Wüste, in die Stille der Nacht. In der Hinwendung an seinen Vater, im Gebet wird Jesus auch auf Psalmen zurückgegriffen haben, die von Vertrauen
und bergender Nähe sprechen. So heißt es in Psalm 91,1–5: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, der sagt zum Herrn: ‚Du bist für mich Zuflucht und Burg, mein
Gott, dem ich vertraue.‘ […] Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht, Schild und Schutz ist dir seine Treue. Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht
nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt […]“ Und im wohl bekanntesten Psalm 23: „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir.“
Er bedeutet eine Steigerung, insofern es nicht nur um die Vergewisserung von Schutz geht, sondern weil er von Geborgenheit spricht inmitten der Gefahr und Dunkelheit. Dann beruhigt sich der
aufgewühlte Beter, wie ein Kind bei seiner Mutter: „Ich ließ meine Seele ruhig werden und still; wie ein kleines Kind bei der Mutter ist meine Seele still in mir.“ (Ps 131,2)
Aber selbst Jesus, von dem wir annehmen können, dass er aus einem tiefen Vertrauen zu seinem Vater lebte, erklärt hinsichtlich
seiner Existenz auf Erden und für alle, die in seine Nachfolge eintreten: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen
kann.“ (Lk 9,58) Mit dem Fokus auf Geborgenheit dürfen wir also – weder in der Bibel insgesamt noch in der Nachfolge Jesu – nicht jene Hinweise übersehen, die den Menschen auch herausfordern. Als
Urbild des Glaubens gilt Abraham, der im hohen Alter noch seine vertraute Heimat verlässt, um ins verheißene Land aufzubrechen.
Die Kirche schenkt mit ihren Riten und Brauchtümern, Symbolen und Erzählungen tatsächlich Halt und Geborgenheit und gilt daher als Stabilisator – sowohl für das individuelle als auch für das gesellschaftliche Leben. Doch der christliche Glaube erschöpft sich nicht darin. In den Schriften der „christlichen Meister“ findet sich häufig die Warnung vor einseitig regressiven Tendenzen. Dies hieße, Gott als eine Art Whirlpool des eigenen Wohlbefindens zu gebrauchen – ein Vorwurf, der oft an esoterische Spiritualität adressiert wird. Kampf und Kontemplation bilden auch im Leben von Christen immer eine spannungsreiche Einheit. In Liturgie (vor allem in Taufe und im Paschageschehen) und Verkündigung finden wir unzählige Symbole und Bilder der Verwandlung und des Aufbruchs, von Neugeburt und schmerzvoller Transformation.
Das Gefühl der Geborgenheit ist aber nie beständig und abgesichert, sondern wird immer durchkreuzt: Von „außen“ durch den Verlust
eines Arbeitsplatzes, dem Unfall eines Kindes oder von „innen“ durch eine Krebsdiagnose oder plötzlich auftretende Angstzustände. Unzählig und vielfältig die Situationen, in denen man den Boden
unter seinen Füßen oder das Dach über seiner Seele verlieren kann.
Der Theologe Karl Rahner hat gerade auch die Fähigkeit, Spannungen im Leben aushalten zu können, zum Kennzeichen des christlichen Glaubens gemacht: „Glauben heißt nichts anderes, als die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten.“ Gesunder Glaube weicht der Angst nicht aus, weiß sich aber von Gott darin begleitet: „Der Herr selbst zieht vor dir her. Er ist mit dir. […] Du sollst dich nicht fürchten und keine Angst haben.“ (Dtn 31,8) Eine solche Zusage und Verheißung führt zu einem erwachsenen Umgang ohne Verdrängungszwang, weil sich der Mensch – als Ganzer von Gott bejaht – mit allen Unzulänglichkeiten, Verwirrungen und Grenzen annehmen kann. In einer Welt des Schmerzes ist diese spirituelle Vermeidung eine bleibende Versuchung. Jesus hat den Schmerz nicht gesucht, ist ihm aber auch nicht ausgewichen. Offensichtlich darf man beim Nachsinnen über Geborgenheit die Grundstruktur christlichen Glaubens nicht vergessen, weil man sonst in der kindlichen Gefühlswelt - z.B. einer süßlich-naiver Weihnachtsstimmung - stehen bleibt. Glaube umfasst immer eine Doppelstruktur mit ihrem tröstend-schützenden und zugleich herausrufend-emanzipierenden Charakter, beinhaltet immer Trost und Protest, Mystik und Politik, Kampf und Kontemplation.
Die beiden fundamentalen, gegensätzlich erscheinenden Bestrebungen finden sich sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch im Leben des Menschen. Menschheitsgeschichtlich war der Mensch gezwungen, die schützende Höhle zu verlassen und um des Überlebens willen auf gefahrvolle Nahrungssuche zu gehen. Entwicklungsorientiert wird das Kleinkind die schützende Nähe und später das heimatliche Zuhause verlassen, um die Welt zu entdecken und sich in der „Welt“ für etwas einzusetzen. Die beiden Pole sind also gleichsam genetisch tief im Menschen verankert. Die hohe Kunst des Lebens besteht vielfach darin, eine gute Balance zu finden zwischen Hinausgehen und Rückzug, zwischen Wagnis und Sicherheit.
Psychologisch gesehen bereitet eine gutmeinende, tragende innere Bindungserfahrung das Gefühl von Geborgenheit im Sinne eines Lebensglaubens (s. o.). Der Glaube an einen letzten Sinn, ein
Getragen-Sein in dunkler Zeit und ein absolut wohlmeinendes DU stärken dieses Lebensgrundgefühl und vertiefen es, auch wenn (äußere) Atmosphären der Geborgenheit einbrechen. Das Schwere und
Unsagbare wird im Gebet vor Gott getragen.
Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist der lutherische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der als Mitglied der Bekennenden Kirche in Deutschland im April 1943 verhaftet und ins Gefängnis Tegel überführt wurde. Den Tod vor Augen schreibt er: „Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.“ Am 9. April 1945 wurde er hingerichtet. Trotz der Unsicherheiten und Ängste, die sich auch bei ihm während der Haft einstellten, rang er sich immer wieder zum Vertrauen durch und spürte eine ihn tragende Geborgenheit. Daraus entsprangen seine wohl bekanntesten Zeilen, die auch in einem wunderbaren Lied vertont worden sind: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Das ist vermutlich das Besondere des Glaubens: sich auch in dunkler Nacht getragen wissen.
Auszüge aus Veröffentlichung von Johannes Panhofer auf der Webseite www.herder.de