Die Debatten über familienpolitische Fragestellungen entwickeln sich sehr schnell zu einer polarisierenden und mitunter verletzenden Auseinandersetzung über unterschiedliche Lebenswege. Damit fühlen sich Menschen schnell betroffen, abgewertet und zu einer Rechtfertigung ihres eigenen Lebensweges genötigt. Dieses Muster ist immer wieder festzustellen. Deshalb brauchen wir für die familienpolitischen Debatten wechselseitigen Respekt vor den Lebensentscheidungen des Einzelnen, Sensibilität für die Werte anderer Menschen und ihrer Lebenssituation. Wir brauchen aber auch den Mut für unsere Überzeugungen einzustehen und Entwicklungen, die Sorge machen, zu benennen.
Das öffentliche Bild und gerade auch die gegenwärtigen öffentlichen Debatten über die Familien und die Familienpolitik, über angeblich modern und angeblich konservativ, sind in weiten Bereichen das Gegenteil der gerade beschriebenen Notwendigkeiten und sie sind auch in hohem Maße ein Zerrbild der Wirklichkeit.
Der „Familienreport 2012 der Bundesregierung“ ist die umfangreichste Datensammlung zur Lage der Familien und übermittelt interessante Fakten.
Nach dem Medienbild könnte, ja muss man annehmen, dass die Familie nicht mehr zeitgemäß ist. Allen Abgesängen zum Trotz sagen aber 79 % der Deutschen, dass man eine Familie braucht, um glücklich zu sein. Besonders erstaunlich ist dabei die Entwicklung bei den jungen Menschen. Bis Ende der 80er Jahre fanden nur gut 40 % der Altersgruppe bis 30 Jahren, dass das so ist, mittlerweile sagen fast 80 % dieser jungen Menschen, dass Familie eine Voraussetzung für das Glück ist.
Ebenso wenig stimmt die öffentliche Wahrnehmung, dass die klassische Familie eher ein Auslaufmodell ist. In Deutschland gibt es nach diesem Bericht 5,7 Mio. Ehepaare mit Kindern, aber nur 1,6 Mio. Alleinerziehende und 739.000 unverheiratete Paare mit Kindern (Zahlenbasis 2010). Allerdings gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Ost und West. In den neuen Ländern stammen 72 % der Kinder aus einer Beziehung ohne Trauschein. In Europa ist diese Zahl lediglich in Island höher. In Westdeutschland werden dagegen nur 28 % der Kinder nicht-ehelich geboren. Lediglich in Italien und Polen kommen noch weniger Kinder nicht-ehelich auf die Welt.
Dies sind nüchterne, aber wichtige Zahlen.
Warum ist den Menschen trotz aller „Modernität“ die Familie so wichtig?
In der Familie suchen und finden Menschen Liebe, Geborgenheit und gegenseitige Hilfe. Familie und Kinder bedeuten Freude, Glück und Zusammenhalt. In der Familie werden die Grundwerte unserer Gesellschaft von Generation zu Generation weitergegeben. Die Familie hat vielfältige Gesichter, Partner, Eltern, Kinder, Kindeskinder, Geschwister, Großeltern, betreuende und betreute Angehörige. Selbst, wenn sie räumlich getrennt sind, halten Familien zusammen und übernehmen gegenseitige Verantwortung und Fürsorge.
Natürlich entspricht diese Schilderung nicht immer der Wirklichkeit, natürlich gibt es auch eine andere Wirklichkeit. Diese Schilderung beschreibt jedoch, was die Menschen mit Familie als Leitbild ihres Lebensentwurfes und ihrer Lebensentscheidungen verbinden. Wie in allen Bereichen des Lebens gelingt dies oft nur sehr bedingt, es ändert aber nichts an dem Wert und an dem Zukunftsentwurf.
Kinder ins Leben zu begleiten gehört zu den wertvollsten Erfahrungen. Kinder lernen in der Familien Grundregeln des Zusammenlebens, die Werte von Kultur und Religion, Gemeinschaft in Freude und Leid. Das Vertrauen, sich auf den Mitmenschen und sein Fürsorge verlassen zu können, aber auch die Vermittlung von Durchsetzungskraft und Teamfähigkeit sind für eine vitale und solidarische Gesellschaft unersetzlich. Die Familie ist das fundamentale Band zwischen den Menschen, auf das Nation und Staat aufbauen können. Politik und Sozialstaat können die familiären Bindungen und die menschliche Fürsorge weder ersetzen noch schaffen.
Trotz dieser überragenden Bedeutung der Familie für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft, stehen die realen Lebensbedingungen für Familien, für Elternschaft und für Kind oft im Widerspruch zu dieser großen Bedeutung. Viele junge Frauen und Männer wünschen sich, dies zeigen Umfragen, Kinder. Aber sehr viele verwirklichen diesen Wunsch nicht. Vor allem die Anforderungen in der Arbeitswelt führt viele junge Menschen in Interessenskonflikte. Der Zwang zur Mobilität und Flexibilität so wie der rasche Wandel im beruflichen Umfeld können Familienzeiten zum Risiko werden lassen. Daher wird häufig der vorhandene Wunsch nach einem Familienleben mit Kindern wegen der Bedingungen im Erwerbsleben, und nicht selten auch wegen Zukunftsängsten, nicht verwirklicht.
Die Erschwernisse und Hindernisse im Alltag sind für Familien vielfältig. Nicht von ungefähr kam dafür die Beschreibung der „strukturellen Rücksichtslosigkeiten“ gegenüber Familien.
Jetzt ist die Zeit eine grundsätzliche familienpolitische Debatte zu führen. Dies aus drei Gründen:
1. Warum gibt es diesen Widerspruch zwischen den Sehnsüchten und Lebensentwürfen der Menschen und der Wirklichkeit und was ist daran veränderbar?
2. Nach welchen Maßstäben bewerten wir den Wert familienpolitischer Leistungen?
3. Wie gestalten wir entsprechend Art. 6, Satz 1 des Grundgesetzes „Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutz der staatlichen Ordnung“, auch im Hinblick auf den Ruf nach Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften?
Dazu einige Anmerkungen:
Warum haben wir diese Diskrepanz zwischen den Lebensentwürfen und den Wünschen der Menschen und der Wirklichkeit?
Für diese notwendige Debatte ist eine wichtige Orientierung das Ergebnis einer Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen „Wie kinderfreundlich ist Europa?
Dänemark ist Spitzenreiter. 90 von 100 Befragten sehen ihr Land als kinderfreundlich an. In Deutschland sagen dies 15 von 100 Befragten. In Spanien sind es 49 %, in den Niederlanden 47 %, in Frankreich 40 %, in Österreich 31 %.
Solange sich diese gesellschaftliche Situation nicht ändert werden alle Finanzleistungen für die Familien an der Situation der Familien oder an der Zahl der Geburten in Deutschland wenig ändern.
Diese Umfrage dokumentiert unser eigentliches Grundproblem.
Was ist die Konsequenz?
Wir müssen die Familienpolitik aus der Schublade der Sozialpolitik herausnehmen und in das Zentrum unserer Gesellschaftspolitik und unserer Zukunftspolitik stellen. Wir müssen die Frage was Familien, was Kinder, aber auch die Familien im Sinne der gesamten Spanne der Generationen für ihr Zusammenleben und für ihre Lebenssituation brauchen, ebenso in unser Denken integrieren, wie dies im Umweltschutz gelungen ist.
Ich kenne die Entwicklung der Umweltpolitik in Deutschland von Anfang an, seit 1970. Die entscheidende Veränderung war damals die Erkenntnis, dass wir den Umweltschutz aus der Reparaturabteilung in die Planungsabteilung umsiedeln müssen. Am Beginn der Planung, etwa eines Produktes, aber auch der Entscheidungen in der Kommunalpolitik von Bebauungsplan bis zu den Verkehrssystemen, in der Arbeitswelt in all ihren Facetten, brachte den entscheidenden Durchbruch. Entsprechende gesetzliche Bestimmungen, Anreize und Sanktionen haben dann die Entwicklung entsprechend gefördert.
Wenn es uns gelingt diese Fragestellung für die Familien ebenso in unser Denken zu integrieren, werden wir ungeahnte kreative Kräfte freisetzen und eine entscheidende Veränderung für die Situation der Familien und damit vor allem auch für die Kinder in der modernen Gesellschaft erreichen.
Allerdings kommt im Hinblick auf Kinder und Familien etwas hinzu, eine Anforderung, die im Umweltschutz so nicht gegeben ist:
Diese Veränderungen sind nur möglich, wenn wir unsere Egoismen ein Stück zurückstellen, unsere Lebenshaltungen verändern, wenn wir lernen Rücksicht zu nehmen, kurzum, wenn wir aufmerksamer, respektvoller, wenn wir menschlicher miteinander umgehen.
Egoistische Selbstverwirklichungs-Trips stehen dazu natürlich quer.
Es gilt aber auch insbesondere die Arbeitswelt anders zu organisieren. Es ist eine Frage der Priorität.
Warum müssen sich die Familien, warum müssen sich die Eltern ständig entsprechend an die Arbeitswelt anpassen, warum werden die heutigen Möglichkeiten der Flexibilität in der Arbeitsorganisation nicht konsequenter für die Anpassung der Arbeitswelt an die Bedürfnisse der Familie genutzt?
Hier geht es schlichtweg um die Prioritäten in einer Gesellschaft.
Wir brauchen eine grundsätzliche Debatte über die Bewertung der familienpolitischen Leistungen. Das zeigt sich drastisch in den Artikeln und Debatten über den „Nutzen familienpolitischer Leistungen“ auf Grund eines noch unveröffentlichten, aber trotzdem bekannten Berichts der Bundesregierung. Der Spiegel formulierte vom „200 Mrd.-Irrtum“. Dabei müssen wir uns als erstes die Frage stellen, was sind denn unsere Maßstäbe für die Beurteilung und Bewertung familienpolitischer Leistungen?
Die Zahl der Kinder? Die Zahl der berufstätigen Mütter? Die Zahl der Kita-Plätze?
Was macht den Wert einer Familie für den Menschen und für die Gesellschaft aus?
Solche Kosten-Nutzen-Positionen eröffnen eine erschreckende Perspektive. Wir sind auf dem Weg den Menschen zunehmend und beinahe oft schon ausschließlich an seinem gesellschaftlichen Nutzen zu bewerten. Das ist bestimmt der Widerspruch im Artikel 1 im Grundgesetz „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das ist ein Grundsatzkonflikt.
Der Trend zur Verzweckung des Menschen und zum Nützlichkeitsmaßstab gegenüber den Menschen ist von fundamentaler Bedeutung für die Humanität unserer Gesellschaft. Dies ist von fundamentaler Bedeutung für den dauerhaften Stellenwert der Schwachen, der Alten, der Kranken, der scheinbar nicht mehr Nützlichen. Es geht dabei um Grundwerte unserer Gesellschaft, um die Prioritäten unserer Gestaltung unseres Zusammenlebens und der Staatsausgaben. Diesen Trend der Verzweckung des Menschen kann man im Übrigen auch in der Entwicklung der schul- und bildungspolitischen Debatten feststellen. Testfähiges Wissen rückt immer mehr in den Mittelpunkt, Persönlichkeitsbildung entsprechend der jeweiligen Altersentwicklung als Mittelpunkt aller Bildung mit dem Ziel der Befähigung eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung, die klassische Verbindung von Erziehung und Bildung rückt in den Hintergrund.
Der dritte Grund für die notwendige familienpolitische Grundsatzdebatte ist die Forderung nach der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften mit Ehe und Familie. Im Kern geht es hier vor allem um die rechtliche Gleichstellung zur Ehe und um ein allgemeines Adoptionsrecht.
Diese Debatte verlangt besonders eine sorgfältige Sprache. Jede Art von Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften muss entschieden widersprochen werden. Wo Menschen füreinander verbindlich Verantwortung übernehmen verdient dies Achtung und Anerkennung. Im Hinblick auf versorgungsrechtliche Regelungen sind schon entsprechende Konsequenzen gezogen worden.
Wer sich gegen eine Gleichstellung mit Ehe und Familie ausspricht, spricht noch keine Diskriminierung aus. Auch dafür braucht es eine sorgfältige Unterscheidung und sind Unterstellungen einer Absicht der Diskriminierung und Abwertung nicht zulässig. Es geht hier um Grundsatzfragen der Gesellschaft und nicht um vordergründige Zuweisungen von Modernität oder Konservativismus. Ich respektiere jede Position, ich akzeptiere aber nicht die abwertende Sprache, die abwertenden Klischees, die denen sofort zugeordnet werden, die der Gleichstellung nicht zustimmen, die eine sorgfältige und grundlegende Debatte für notwendig erachten. Es gibt einen bleibenden Unterschied zwischen gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft und der Verbindung von Frau und Mann, da diese potentiell auf Nachkommen und damit auf Generativität angelegt sind. Wer diesen Unterschied nicht wahrhaben will, ignoriert die Intension des Grundgesetzes, das Ehe und Familie als in sich nachhaltige Lebensform und Grundlage einer Gesellschaft besonders schützen will. Es gilt auch alle Maßnahmen zu Ende zu denken, vom generellen Adoptionsrecht bis zum Zugang zur Reproduktionsmedizin. Alle diese Fragestellungen sind jedoch mit den Grundsatzfragen nach dem Verständnis von Ehe und Familie verbunden.
Zu dieser notwendigen familienpolitischen Grundsatzdebatte gehört vor allem auch, dass es nicht reicht die Bedeutung von Artikel 6, GG, mit dem besonderen Schutz von Ehe und Familie nur so zu definieren, dass diesem Anspruch genüge getan ist, wenn die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften nicht erfolgt.
Es ist vielmehr eine kreative und intensive Debatte notwendig, wie wir diesen Auftrag des Grundgesetzes im Hinblick auf die Lebenssituation von Familien in der modernen Welt aktiv gestalten und damit diese Lebenssituation nachhaltig verbessern.
Das ist die Aufgabe der Stunde.
Alois Glück, Präsident ZdK