Immer wieder ging Jesus in die Stille, oft auf einen Berg, um für sich allein zu sein und zu beten. In der alttestamentlichen Lesung geschah die Gottesbegegnung des Propheten Elija am Berg Horeb auch nicht im Sturm, nicht im Erdbeben und auch nicht im Feuer, sondern in einem sanften leisen Säuseln. In allen Religionen gilt die Stille als der Begegnungsort mit Gott.
Der Weg in die Stille ist auch für uns, unsere Fragen, unser ganzes Leben der Königsweg zu uns selbst, zur Welt des Geistes, der Spiritualität und der uns umgreifenden Welt, der Welt Gottes. Nur in der Stille, im Alleinsein (nicht im Einsamsein) kommen wir zu uns selbst und zu Klärungen unserer Fragen. Stille kann so zu einem Balsam für die Seele werden.
Die meisten Menschen meiden aber die Stille und das Alleinsein. Der Philosoph Blaise Pascal prägte schon im 17. Jahrhundert den folgenden und so wahren Satz: „Nichts ist dem Menschen so unerträglich, als wenn er sich in vollkommener Ruhe befindet, ohne Leidenschaften, ohne Beschäftigungen, ohne Zerstreuungen, ohne Betriebsamkeit. Dann fühlt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Sogleich werden vom Grunde seiner Seele die Langeweile, der Trübsinn, die Traurigkeit, der Kummer, der Verdruss und die Verzweiflung aufsteigen.“
Wer diese Seelenzustände aber immer wieder übend aushält und durchschreitet, der wird über kurz oder lang bei der Entwicklung seines Innenlebens Klärungen, Erkenntnisse, „Erleuchtungen“ und Früchte ernten: Inneres und äußeres Aufgeräumt-Sein, Authentizität und Echtheit, Frieden, Klarheit, Entscheidungsfähigkeit, Freude, Geduld, Güte, Liebe und Sinnhaftigkeit.
In Anlehnung an die „Begegnung mit dem leisen Gott“ in der Geschichte Elijas in der Bibel deutet Jörg Zink, ein großer christlicher Schriftsteller und Theologe unserer Zeit, den Weg nach Innen in der Begegnung mit Gott in der Stille als einen Abstieg in die Untergeschosse unserer Seele. Im ersten Untergeschoss ist noch alles schön und klar. Das Selbstbild hängt als schöner Spiegel an der Wand und tröstet darüber hinweg, weil einen niemand versteht. Im zweiten Untergeschoss wohnen der Unmut, die Wut, die Frustration den Menschen, dem Leben und auch Gott gegenüber. Und im dritten Untergeschoss ist alles voller Gerümpel, Angst, Masken und Beschämendes über uns selbst. Dort ist der Raum der Begegnung mit dem eigenen Schatten, der ehrlichen Selbst- und Gottesbegegnung. „Aber dort, in der Tiefe deiner Seele, wo Gott mit dir spricht, ist nicht dein Aufenthaltsort für dein restliches Leben. Nicht deine Fluchthöhle. Wenn du dem inneren Wort lange genug und genau zuhörst, wirst du hören, wie es sagt: Komm heraus! Gott gibt dir mit seinem stillen, sanften Wort eine Lebenskraft, die größer ist als deine eigene.“
Wer durch die inneren Seelenräume geht, wer all den Gegenkräften, die einem davon abhalten wollen, widersteht, der erlebt sein Innerstes als Zufluchtsort, als Sehnsuchtsort, als ein spirituelles Gasthaus, in das er immer wieder gerne einkehrt, um dann den Alltag und den Lebenskampf gut und authentisch bestehen zu können.
Wer nicht will, dass Religion und Glaube langweilig, nichtssagend und nichtsbringend werden, wer erfahren will, wie energetisierend, kraft- und sinnschenkend ehrlich gelebte Spiritualität sein kann, wer der Sehnsucht seines Herzens traut und das Suchen und Finden nicht aufgibt, der wird im Laufe seiner Lebenswanderschaft erfahren, dass der Weg in die Stille in ein weites Land führt, das einen im grauen Einerlei des Alltages Regenbogenfarben schenkt, klare und reine Luft zum Aufatmen zufächelt und überreich Nahrung bereit hält, die einen wirklich nährt.
Wenn Glaube, Religion und Spiritualität so erfahren werden, dann bewegen wir uns in den Bereich der Mystik, einer gelebten Verbindung von Gott und Mensch, die Freiheit und Friede schenkt. Der Mystiker Angelus Silesius (Johann Scheffler) (1624 – 1677) wusste dies, wenn er folgende Verse dichtete: In jedem ruht ein Bild dess‘, was er werden soll, solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.
Wer immer wieder in die Stille geht, wer sich seinem eigenen Schatten stellt und eine Aussöhnung mit der verborgenen Seite in sich selbst anstrebt, wer ins eigene Herz hineinhorchen lernt, wer dem beredten Schweigen Gottes in dieser Welt lauschen lernt, der wird trotz aller Hindernisse, Bosheiten und Schwierigkeiten ein wirklich freier Mensch. Und so ein Mensch findet Schritt für Schritt den Weg zu sich selbst, zur Selbstbefreiung, Selbstsicherheit, Selbstentfaltung, zur inneren Ruhe und Zufriedenheit, komme was kommen wolle. So ein Mensch findet dann auch Gott.
Beides, das Sich-Selbst-und-das Gott-finden werden ihn bleibend positiv verändern.
Ausschnitte aus einem Impuls von Pfarrer Christoph Kreitmeir aus August 2020